Malwina und die Versuchung

Vor vielen Jahren lebte in einer ländlichen Gegend das Mädchen Malwina. Mit ihren Eltern hauste sie in einer ärmlichen kleinen Hütte, die in der Nähe eines Waldrandes stand, dicht bei einem Teich, abgelegen vom Dorf.

Auf dem kleinen Feld neben dem Haus schuftete der Vater Tag ein Tag aus, aber der Ertrag reichte nicht, die Not saß täglich mit am Tisch. Die Liebsten hungern zu sehen, konnte der brave Mann nicht länger ertragen und er beschloss aus dem nahen gelegenen Wald etwas Essbares zu besorgen, trotz der Gerüchte, dass der Wald nicht geheuer sei und dort eine gefährliche Bestie ihr Unwesen treiben solle. Seine Lieben küssten und umarmten ihn zum Abschied, gaben ihm das letzte Stück Brot zur Stärkung mit und winkten, bis der dunkle Wald ihn verschluckte.

Viele Tage vergingen, der Vater kehrte nicht zurück und die Mutter glaubte, dass ihr Mann umgekommen sein müsste. Sie trauerte so sehr um ihren Gatten, dass sie Malwinas zehnten Geburtstag völlig vergaß. Enttäuscht lief die Kleine zum Teich, kroch auf ihren Lieblingsbaumstumpf und schaute mit Tränen verhangenem Blick in das dunkle Wasser. Es dauerte nicht lange und ein Hecht streckte seinen Kopf heraus. Er kannte das Mädchen gut, denn manchmal fütterte sie ihn mit ein paar Brotkrumen.

»Aber, aber, warum weinst du kleine Malwina?«

»Wer spricht da?« Fragte sie erstaunt und schaute suchend in die Gegend.

»Hier, ich bin im Wasser. Ich rede mit dir. Erzähle mir, was dich bedrückt.«

Das Kind mochte zuerst nicht glauben, dass der alte Fisch mit ihr sprach. Aber es war tatsächlich so und weshalb nicht all den Kummer von der Seele reden, dachte sie. Es hörte ja sonst niemand zu.

»Ich bin traurig, weil mein Vater vor langer Zeit in den dunklen Wald gegangen ist, und ich habe so große Angst, dass er…, dass er nicht mehr lebt. Ja, und ich bin auch traurig, weil die Mutter meinen Geburtstag vergessen hat.«

»Moment, bin gleich zurück«, meinte der Hecht und glitt in die Tiefe, um kurze Zeit später mit einem Geschenk wieder aufzutauchen.

»Trockne die Tränen, dein Vater ist am Leben. Allerdings hat er seine menschliche Gestalt verloren. Der böse Waldgeist Nimuk, der schon seit hunderten von Jahren hier sein Unwesen treibt, hat ihn in einen wilden Eber verwandelt.«

»Oh weh, was soll ich nur tun? Kann der Zauber gebrochen werden? Sag´s mir lieber Fisch, bitte.«

»Ja, es gibt eine Erlösung, aber den Hergang kenne ich nicht. Der Wasserfall am großen Waldsee kann dir weiterhelfen, du musst zu ihm gehen und ihn fragen.«

»Wie komme ich dorthin?«

»Nun, du gehst geradewegs in den Tannenwald, ganz tief, bis zum siebten Kreuzweg. Dort fragst du Meister Bär nach der Richtung. Genaueres weiß ich auch nicht. Nimm dieses Geschenk von mir. Das ist ein Amulett von den Feen und beschützt dich vor Nimuks bösem Zauber. Lege das Kleinod niemals ab, egal, was der Kauz dir auch verspricht, es würde dein Verderben sein. Geh jetzt Kind und viel Glück auf deinem Weg.«

»Vielen Dank für deine freundliche Hilfe«, nickte Malwina brav, legte die Kette mit dem Amulett um ihren Hals, schaute noch einmal zur elterlichen Hütte hinüber und strebte voller Zuversicht auf den unheimlichen Wald zu.

Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, schien kein einziger Strahl durch die Baumwipfel hindurch. Kühles Halbdunkel ließ das Mädchen erschaudern. Ihr kleines Herz raste vor Angst und drohte zu zerspringen. Aber der Gedanke an den Vater gab ihr Mut und Kraft. Tapfer schritt sie voran, stets auf der Hut vor dem unbekannten Waldschrat. Erschöpft und sehr durstig erreichte Malwina den sechsten Kreuzweg. Hier wollte sie einen Moment verschnaufen und ruhte auf einer Baumwurzel aus. Plötzlich tauchte aus dem Nichts ein altes Männlein auf. Es trug auf dem Rücken eine geflochtene Tragetasche. Sein schulterlanges, schneeweißes Haar bedeckte ein löchriger Schlapphut. Der ungepflegte Bart reichte ihm bis zum Knie. Er stützte seinen unförmigen Körper schwerfällig auf einen dicken Knüppel.

»Na so was. Hast du dich verirrt, kleine Maid?«

Verwundert schaute sie den komischen Alten an und bat ihn um Wasser.

»Bitte, mich durstet sehr, gebt mir ein klein wenig zu trinken.«

»Gerne gebe ich dir von meinem wenigen Wasser, wenn du mir dafür deine hübsche Halskette gibst«, forderte das Männlein mit lauerndem Blick.

Malwinas Durst war so unerträglich, dass sie nach dem Amulett griff, um es für einen Schluck Wasser herzugeben. Gerade wollte der Alte das Kleinod fassen, in diesem Moment fielen ihr die warnenden Worte des Hechtes wieder ein. Geschwind legte sie den Schmuck wieder um.

»Nein, guter Mann, ich kann euch das Amulett nicht geben. Dieses kostbare Geschenk würde meinem Vater den Tod bringen, sobald es nicht mehr in meinem Besitz ist.«

Wutentbrannt über seinen Misserfolg schwang der Fremde seinen Wanderstab und rief.

Vorbei, vorbei

Ist eh Einerlei

Doch hab Acht,

Was der Nimuk sonst noch macht.

So urplötzlich wie der Alte aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Zu dem großen Durst des Kindes kam nun auch heftige Müdigkeit. Sie schaute umher und entdeckte einen hohlen Baumstamm. Der Hohlraum im Inneren bot ausreichend Schutz für die Nacht gegen Kälte und wilde Tiere.

Malwina kauerte nieder und schlief auf der Stelle ein. Ein schlimmer Alptraum suchte sie heim. Immer wieder erschien im Traum der unheimliche alte Mann und riss ihr die Kette herunter. Danach verhexte er sie unter höhnischem Gelächter in ein hilfloses kleines Rehkitz. Etwas Weiches ließ das Madchen aus seinem unruhigen Schlaf erwachen. Ein Eichhörnchen turnte keck auf ihr herum.

»He, du kleiner Frechdachs, ist die Nacht schon vorbei?«

Der kleine Rotpelz hielt inne, sah ihr in die Augen und hüpfte auf dem Weg davon. Vorsichtig verließ die Kleine ihre Höhle. Der neue Tag brach an. Feuchte, kühle Nebelschwaden glitten über den Waldboden und die ersten Vögel zwitscherten ihr Morgenlied.

»Oh weh. Welcher der vier Pfade führt bloß zum siebten Kreuzweg? Sie sehen alle gleich aus, aber nur einer ist der Richtige. Wie soll ich das herausfinden«, jammerte sie leise.

Wahrend Malwina verzweifelt von einem Weg zum anderen hetzte, spürte sie ein seltsames Ziehen auf der Brust. Erstaunt stellte sie fest, dass die Kette sie mit aller Kraft in eine bestimmte Richtung zog. Erleichtert nahm das Mädchen jenen Pfad und eilte vorwärts. Sie rannte lange auf dem Weg, bis ihr Magen laut knurrte. Abseits des Weges luden saftige, rotleuchtende Beeren zur Rast ein. Das sind nur wenige Schritte, dachte Malwina, das kann nicht gefährlich sein. Vorsichtig probierte sie von den Früchten, befand sie für gut und stillte gierig ihren Hunger.

»Ein Stück Brot würde deinem leeren Bauch sicherlich besser bekommen«, ertönte eine Stimme unerwartet aus dem Dickicht. Im selben Moment trat eine steinalte, völlig in Tierfelle gehüllte Frau hervor.

»Ja, Großmutter, ein Stück Brot käme mir sehr recht. Aber was verlangt ihr dafür?«

»Oh, nicht viel, mein Kind. Mir genügt deine alte, hässliche Kette«, heuchelte die Alte.

»Das ist unmöglich. So hungrig ich auch bin, das geht wirklich nicht.«

Das merkwürdige Weib trat näher, starrte unentwegt auf das Schmuckstück, streckte ihre knochigen Finger aus und war begierig das Amulett zu erhaschen. Entsetzt wich Malwina zurück.

»Nein«, schrie sie, »ich gebe mein Geschenk nicht her. Schert Euch weg, lasst mich in Ruhe.«

Auf einmal zeigte die alte Frau ihr wahres Gesicht. Sie schimpfte lauthals.

Vorbei, vorbei

Ist eh Einerlei

Doch hab Acht,

Was der Nimuk sonst noch macht

Seltsam, dachte Malwina, genau die gleichen Worte rief der Kauz auch. Sie setzte unbeirrt ihren Weg fort. Nach kurzer Zeit kam das erste Ziel, der siebte Kreuzweg, in Sicht. Vergeblich hielt Malwina Ausschau nach einem Bären. Weit konnte er nicht sein.

»Hallo Bär. Wo bist du?«

Sie lauschte eine Weile und rief verzweifelt.

»Meister Bär.« Und noch einmal. »Meister Bär.«

»Hm, wer ruft nach mir«, tapste laut brummend ein mächtiger Braunbär aus dem Unterholz.

»Ich habe dich gerufen«, erwiderte Malwina kleinlaut, »der Hecht aus dem Weiher schickt mich zu dir.«

»So und was willst du von mir?«

»Kannst du mir bitte sagen, wie ich zu dem Wasserfall am großen Waldsee komme?«

»Hm, ja, kann ich. Erst gehst du zweihundert Schritte nach links, dann hundert geradeaus und wieder zweihundert Schritte nach links. Dort findest du, was du suchst.«

»Hab vielen Dank, lieber Bär.«

Der zottelige Geselle grummelte etwas in seinen Bart und trottete gemächlich davon.

»Einhundertsechsundachtzig, einhundertsiebenundachtzig…«

»Zählst du auch richtig, kleine Kröte«, fragte eine unangenehm schnarrende Stimme aus dem Nichts.

»Einhundertachtundachtzig…, Einhundertneunundachtzig…«.

Malwina blieb erschrocken stehen. Ein verwegen aussehender Wicht sprang mitten auf den Pfad. Er war von sehr kleiner Gestalt, mit krummen Beinen, viel zu langen Armen und riesigen Händen. Sein halsloser Kopf erinnerte an einen übergroßen Kürbis. Die Haut des Zwerges schien aus altem, wettergegerbtem Ziegenleder zu sein. Er trug ein grellrotes Beinkleid, abgelaufene Holzpantinen, ein viel zu enges grünes Wams und einen blauen Spitzhut.

»Weißt du, wer ich bin?« Der Gnom lächelte hinterhältig.

»Einhundertneunzig…, einhunderteinundneunzig…«

»Nun hör schon auf mit diesem blöden Zahlen«, forderte der Kerl energisch und setzte hämisch grinsend hinzu.

Vorbei, vorbei

Ist eh Einerlei

»Einhundertzweiundneunzig…, Einhundert… «

Malwina stockte der Atem.

»Halt. Kommt mir nicht zu nahe«, schrie sie das Männlein an.

»Ihr seid…, gewiss der gemeine Nimuk, der meinen lieben Vater verhext hat.«

»Es war mir eine Freude, der Schurke hat es nicht besser verdient.«

»Pfui, wie kannst du so etwas sagen. Was hat mein Vater dir Schlimmes angetan?«

»Dieser Taugenichts war dreist genug in meinem Forst einzudringen, um Wild zu jagen. Aber er wird mich nie wieder bestehlen, denn nun jagt man ihn.«

»Es stimmt also. Du bist der böse Waldschrat und hast den Vater in einen wilden Eber verwandelt.«

»Genug der Plauderei. Gib mir endlich die Halskette, aber schnell.«

»Schrei Nimuk, soviel du willst. Solange das Amulett auf meiner Brust ruht, habe ich keine Angst vor dir«, entgegnete die Kleine mutig, drehte ihm den Rücken zu und ging ihres Weges.

»Einhundertdreiundneunzig…, einhundertvierundneunzig…«

Wieder musste der Waldschrat unverrichteter Dinge das Kind ziehen lassen. Nach genau fünfhundert Schritten kam Malwina am See an. Von einem hohen Felsen stürzte der Wasserfall herab. Sie trat respektvoll an die tosenden Wassermassen heran und sprach.

»Guten Tag, Wasserfall. Der alte Hecht aus dem Weiher schickt mich zu dir, dass ich von dir Hilfe erhoffen kann.«

Das plätschernde Geräusch der herabfallenden Fluten übertönte ihre Stimme. Nichts geschah und sie bat erneut.

»Guten Tag, Wasserfall, ich erbitte deine Hilfe.«

Malwina wartete geduldig, aber das Wasser antwortete nicht. Entmutigt ging sie zurück und setzte sich am Ufer des Sees auf einen Stein. Tränen liefen über ihre Wangen. Die Hoffnung in ihr schwand. Die riesigen Tannenbäume hinter ihr rauschten im Wind und Malwina fing an zu schluchzen. Enttäuscht beugte sie ihr Gesicht über den Uferrand.

»Bitte lieber Wasserfall, hilf mir. Ich weiß nicht mehr weiter.«

Ihre Tränen tropften in das kühle Nass und versanken in den Wellen. Ein Gesicht erschien auf der Oberfläche.

»Die salzigen Tränen deines reinen Herzens rühren mich, mein Kind«, sagte eine Stimme. »Ich helfe dir. Höre gut zu, denn ich gebe mein Geheimnis nur einmal preis. Du benötigst einen klaren Diamanten. Einen, der das Sonnenlicht bricht und ein sprühendes Licht erzeugt. Dies allein kann deinen Vater wieder zurück verwandeln. Er wartet auf der Lichtung nahe am dritten Kreuzweg.«

»Aber woher bekomme ich einen so wertvollen Stein?«

»Du findest ihn auf dem Grund meines Sees. Gehe furchtlos hinein, lasse dich hinabsinken und sei gewiss, das Amulett behütet dein Leben.«

»Vielen Dank, du kluges, liebes Wasser«, rief Malwina erleichtert und sprang auf.

Zögernd schritt sie langsam immer weiter in den dunklen See hinein, bis sie endgültig den Boden unter ihren Füßen verlor. Nun packte sie doch die Angst. Malwina strampelte heftig und glaubte ertrinken zu müssen. Aber auf einmal konnte sie wieder frei atmen. Eine riesige Luftblase umschloss ihren Kopf und sie schwebte auf den Grund herab, direkt zu einem leuchtenden Diamanten. Glücklich barg sie den faustgroßen Stein und gelangte unbeschadet ans Ufer zurück. Noch ehe ihre nassen Kleider in der warmen Sonne getrocknet waren, lief Malwina so schnell wie sie konnte zum dritten Kreuzweg. Die nahe Rettung des Vaters vor Augen presste sie den kostbaren Diamanten fest an ihr Herz.

In ihrem Glück bemerkte sie den schwarzen Vogel nicht, der sie verfolgte. Sie erreichte die Lichtung und tatsächlich, dort lag der wilde Eber in der Sonne. Vorsichtig, um das Tier nicht aufzuschrecken, schlich sie näher. Plötzlich flatterte der Rabe ihr vor die Füße und wurde zu Nimuk.

»Halt, und keinen Schritt weiter«, kreischte der Schrat, »sonst wirst du es bereuen.«

»Nein«, erwiderte Malwina gefasst. »Du böser Giftzwerg, ich lasse mir von dir nicht mehr drohen.«

»Warte ab, noch bist du nicht am Ziel«, keifte der Gnom und rief beschwörend.

Vorbei, vorbei

Ist eh Einerlei

Doch hab Acht,

Was der Nimuk sonst noch macht.

Kaum ausgesprochen hielt Malwina statt des Diamanten einen Flusskiesel in ihren Händen. So unmittelbar vor der Entzauberung ihres Vaters, traf sie diese Gemeinheit mitten ins Herz.

Tiefe Verzweiflung ließ sie bittere Tränen weinen. Einige Tropfen benetzten den grauen Kiesel. Sie verdampften zischend und der Stein wandelte sich wieder zum Diamanten. Blitzschnell streckte Malwina ihn der Sonne entgegen. Diese schickte ihre ganze Kraft in den Edelstein. Augenblicklich umfing sprühendes Licht den dösenden Eber und gab ihm seine menschliche Gestalt zurück. Auch den Waldschrat Nimuk trafen die Strahlen und ließen ihn grässlich fluchend in übelriechenden Rauch aufgehen. Der Vater schloss seine Tochter vor Glück in die Arme. Die beiden umarmten einander immer wieder, bis Malwina sagte.

»Vater, lieber Vater, so komm, lasst uns heimgehen. Die Mutter ist sicherlich vor Sorge schon ganz krank.«

»Du hast Recht, meine kleine Heldin«, antwortete er lachend und sie liefen auf dem Weg zurück nach Hause. Der einst so dunkle und unfreundliche Wald erschien ihnen plötzlich heller und fröhlicher und sie kamen bald am heimischen Weiher an.

»Vater«, bat Malwina, »bitte geh voraus, ich habe noch etwas zu erledigen.«

Sie ging zu ihrem Lieblingsplatz und rief leise.

»Fisch … Guter Hecht, bitte komm herauf.«

Das Wasser geriet in Bewegung und der Gerufene tauchte auf.

»Ich möchte dir von Herzen danken, lieber Hecht. Dein Geschenk hat mir sehr geholfen und mein Vater ist nun wieder bei uns. Deshalb will ich dir den kostbaren Edelstein zurückgeben.«

»So sei es«, antwortete der alte Fisch, nahm das Schmuckstück und glitt zurück in die Tiefe.

Die Wiedersehensfreude von Mutter, Vater und Tochter war riesengroß. Ihre Freudentränen wollten kein Ende nehmen und als Geschenk des Zauberhechtes für die Rückgabe des Diamanten verwandelte sich ihre Tränen in kostbare Perlen.

Ihre Not hatte somit ein für alle Mal ein Ende.

Die Versuchung – Eine märchenhafte Kurzgeschichte