symbolische Darstellung von Santa Claus
Märchen

Der Beweis

Meine Schwester versperrte mir den Weg ins Wohnzimmer. Ihr hämisches Grinsen machte mich wahnsinnig.

»Du darfst da nicht rein.« Immer musste sie die Ältere spielen.

  »Du auch nicht«, schrie ich zurück.

   »Kinder.«

Die Stimme unserer Mutter ertönte. Sie steckte den Kopf aus der Küche und lächelte geheimnisvoll.

   »Morgen ist Weihnachten. Habt Geduld. Der Weihnachtsmann kommt bald. Ihr könntet in der Zwischenzeit eure Zimmer aufräumen.«

   »Hab ich schon«, antwortete meine Schwester und warf mir wieder diesen Blick zu.

   »Er aber nicht.« Der Finger ihrer Hand zeigte auf mich.

   »Petze«, murmelte ich.

Mutter trat auf den Flur und lachte.

   »Claus, dann wird es allerhöchste Zeit. Beeil dich, der Weihnachtsmann hat kein Verständnis für Durcheinander. Er ist bereits auf dem Weg, nur noch tausend Kilometer und sein Schlitten hält vor unserer Haustür.«

Mein Kopf zuckte herum. Sie sagte diese Zahl zum zweiten Mal. Mutter sah mich an, lächelte und verschwand in der Küche. Mein Blick wanderte zu meiner Schwester. Sie stand immer noch mit ausgestreckten Armen vor der Wohnzimmertür und spielte den Aufpasser. Gelangweilt winkte ich ab. Warum musste ausgerechnet ich eine Schwester haben? Mit einem Bruder könnte man Pläne schmieden oder zumindest vernünftig spielen.

   »Wie viel ist tausend?« Ich wagte einen Vorstoß.

Meine Schwester fing an zu kichern. Sie hielt die Hand vor den Mund.

   »Bist du blöd.«

Sofort bereute ich meine Frage.

   »Wenn du es so gut weißt, kannst du mir auch alles sagen.«

   »Vielleicht.« Sie überlegte.

   »Wie viele Comics hast du?«

Was sollte diese Frage? Ich verstand den Zusammenhang nicht.

   »Ziemlich viele. Wenn ich sie aufeinanderlege, geht der Haufen bis zum Knie.«

   »Stell dir vor, sie reichen bis zur Decke, dann sind es tausend.«

Comichefte bis zur Decke? Selbst wenn ich auf einen Stuhl stieg und die Arme ausstreckte, konnte ich die Decke des Zimmers nur erahnen. Das sprengte meine Vorstellungskraft. Nur im Paradies gab es dermaßen viele Comics. Meine Schwester übertrieb, wie immer. Ich warf ihr einen düsteren Blick zu.

   »Du lügst.«

   »Gar nicht. In der Schule rechnen wir bis tausend. Ich bin immerhin in der zweiten Klasse und du nicht mal eingeschult. Ich weiß das.«

Auf diese Antwort gab es kein Gegenargument mehr. Die zweite Niederlage in kürzester Zeit und das vor Weihnachten. Das Jahr endete schlimm. Entnervt schlich ich die Treppe hoch zu meinem Zimmer, hockte mich zwischen meine Autos und versuchte Ablenkung zu finden.

   Mädchen, dachte ich. Müssen immer Recht haben. Räumen ständig auf, achten auf saubere Fingernägel und kämmen dauernd ihre Haare. Morgens belegen sie stundenlang das Badezimmer und schreien, wenn man hereinplatzt um die Hände zu waschen. Sie können nicht schnell laufen, haben ständig nur Kleidung im Sinn und überhaupt. Die Tür meines Zimmers ging auf. Meine Schwester stand im Türrahmen. Die Nervensäge gab keine Ruhe.

   »Außerdem, den Weihnachtsmann gibt es nicht.«

   »Hau ab, das ist mein Zimmer.«

Ich warf eine Plastikfigur in ihre Richtung. Sie gackerte herum und rannte weg.

   Der Weihnachtsmann war tot? Ihre Worte steckten wie Giftstachel in meinem Körper. Lernte man das in der Schule? Meine Weltanschauung wankte. Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Mit einem Satz schnellte ich hoch, sprang elegant die Holztreppe herunter und forderte Klärung von Mutter.

   »Sabine hat gesagt, der Weihnachtsmann kommt nicht. Den gibt es gar nicht.«

Mutter schlug spontan die Hände über dem Kopf zusammen. Ich achtete auf jede ihrer Bewegungen, aber ihre Entrüstung schien echt.

   »Du lieber Himmel.«

Mein Vater bog um die Ecke. Er kam aus der verbotenen Zone und hatte auch so ein seliges Lächeln im Gesicht. Was geschah in diesem Wohnzimmer, dass jeder, der dort hinein ging, mit verklärtem Ausdruck wieder herauskam?

   »Was ist passiert?« Seine tiefe Stimme machte mir Mut. Ich berichtete von dem ungeheuerlichen Tatverdacht.

   »Das ist eine ernste Angelegenheit«, nickte er verständnisvoll. »Lass uns mit Sabine reden.«

Triumphierend marschierte ich an der Seite meines Vaters die Treppe hoch. Neben mir galoppierte die Kavallerie, jetzt würde die Wahrheit ans Licht kommen.

   Meine Schwester sah uns bereits von weitem und setzte eine wissende Miene auf. Sie spielte sie Unschuldige. Typisch. Die Klärung erfolgte prompt. Ihr fehlten jegliche Beweise und zur Strafe sollte sie mich in Ruhe lassen. Ich hatte gewonnen. Zufrieden ging ich in mein Zimmer zurück, aber ein kleiner Zweifel in mir überlebte. Könnte sie in der Schule Dinge erfahren haben, die meinem Vater vielleicht nicht bekannt waren?

   Ich wartete, bis die allgemeine Aufregung vorbei schien und mich niemand mehr beobachtete. Vorsichtig kramte ich mein Heft unter meiner Matratze hervor. Ein ideales Versteck für meinen Schatz. Ich hatte meiner Schwester dieses Schulheft geklaut und bis heute war ihr das nicht aufgefallen. Alle meine Wünsche klebten darin. Es waren nur Bilder, aus Zeitschriften ausgeschnitten, denn meine Schrift konnte selbst ich nicht lesen. Eine Autorennbahn, das Indianerdorf oder Soldatenfort, meine Wunschliste wuchs ständig.

   »Kinder, essen kommen.«

Mutter läutete den kleinen Gong neben der Küchentür.

   Meine Nacht verlief unruhig. Kleine Kobolde tanzten zwischen Indianern auf dem Innenplatz eines Westernforts, daneben röhrten pfeilschnelle Maseratis um die Wette. Sie sangen immer die gleichen Worte, den Weihnachtsmann gibt es nicht, alles ist nur Phantasie. Am nächsten Morgen öffnete ich die Augen, schaute auf meinen Kalender, pulte die größte Tür auf und stopfte mir das Stück Schokolade in den Mund. Heute käme die Antwort auf meine Zweifel, das wusste ich. Abends war es soweit. Endlich Weihnachten, die Bescherung stand bevor.

   »Der Junge sieht so süß aus in seinem Anzug.«

Tante Inge tätschelte meine Wange. Die gesamte Verwandtschaft war gekommen. Zwei Tanten, meine Onkel, drei Cousinen und ein Cousin, frisch aus dem Krankenhaus. Er war zwar noch nicht ansprechbar, aber nächstes Jahr, wenn er krabbeln konnte, durchaus brauchbar zum spielen. Meine Schwester lachte ihre Lieblingstante an. Tante Inge nahm sie in den Arm.

   »Sabinchen, freust du dich? Ich habe alle deine Wünsche an den Weihnachtsmann weitergegeben.«

   »Du bist toll. Ich glaube, gestern habe ich ihn am Himmel gesehen.«

   »Wirklich?«

   »Ja. Er hat mir zugewinkt.«

Tante Inge küsste sie auf die Stirn.

   »Du bist ein liebes Kind.« Sie schlich an uns vorbei, ins Wohnzimmer.

Ich stand mit meiner Schwester vor der Tür und wartete, dass Mutter uns die Erlaubnis gab, hineingehen zu dürfen.

   »Gestern hast du behauptet, den Weihnachtsmann gibt es nicht.«

Mein Blick klagte sie an.

   »Stimmt. Tante Inge mag es aber, wenn ich daran glaube.«

   »Du bist nicht ehrlich.«

   »Doch. Dir, meinem Bruder, habe ich die Wahrheit gesagt.«

Bevor ich darauf antworten konnte, trat unsere Mutter aus dem Wohnzimmer heraus.

   »Kommt Kinder, es ist Weihnachten.«

Sie führte uns in den abgedunkelten Raum, Musik erklang und plötzlich, wie von Geisterhand berührt, erstrahlte der Tannenbaum.

   Er reichte bis zur Decke und war riesig. Die Kerzen blendeten. Mein Mund blieb offenstehen, ich starrte auf den geschmückten Baum. Süßigkeiten hingen neben den glitzernden Kugeln, Geschenke lagen auf der Decke am Boden und das Lametta schien Sterne zu versprühen. Ich lachte, völlig verzückt, meine Eltern an. Mutter wischte mit der Hand über ihre Augen. Vater legte den Arm um ihre Schultern und reichte ihr ein Taschentuch.

   »Frohe Weihnachten«, sagte sie mit leichtem Zittern in der Stimme.

Ich versuchte die Kerzen zu zählen. Nach fünf kam eine Zahl, die ich vergessen hatte. Die neun kannte ich und natürlich die elf. Ich spielte Fußball. Meine Schwester bemerkte meine Ratlosigkeit.

   »Das sind tausend.« Ihr Blick war auf die Kerzen gerichtet.

   »Hab ich sofort gesehen. Jetzt weißt du, wie viel das ist.«

Ich nickte, sie hatte mich überzeugt. Das war also die berühmte Zahl, die ich von den Erwachsenen öfter gehört hatte.

   Meine Mutter reichte uns Geschenke. Schon das Erste enthielt die absolute Überraschung, ein Piratenboot mit zwei Kanonen, die Erbsen verschießen konnten. Aber das Zweite war noch besser, Gleitschuhe. Beide Sehnsüchte standen weder in meinem Heft noch auf dem Wunschzettel.

   Mama gab mir vor Weihnachten den Rat, die beiden Bilder auf die Fensterbank unter mein Lieblingsauto zu legen und jeden Abend nach meinem Nachtgebet, auch den Weihnachtsmann in meinen Gedanken für die Erfüllung zu bitten. Er musste mich gehört haben, denn ich hatte niemals, auch nicht mit einem Wort, laut darum gebettelt. Das war der Beweis.

   Meine Schwester unterlag einem furchtbaren Irrtum, der Weihnachtsmann lebte.   

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Erschienen 2009 im Dreambook Verlag