Abseits der Sünde I
Blitze zuckten. Donner krachte.
Das Ende aller Tage rückte in greifbare Nähe. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt das Unwetter inne, bevor der Wind endgültig zu toben begann und die Stadt mit Regen peitschte. Es schien, Dämonen öffneten Höllentore, ihres Herrn und Meisters Ankunft zu huldigen.
Bess Brown stand am Fenster seines Hotelzimmers und linste durch einen Spalt zwischen Wand und Vorhang. In der Glasscheibe spiegelte sich nackte Haut, Gliedmaßen, ausgestreckt auf einem Laken. Das Mädchen drehte ihm halb den Rücken zu. Ihr Haar floss in Wellen über die Kissen. Kleinere Unvollkommenheiten ihres Körpers verblassten im Lichtschein einer matten Nachtischbeleuchtung. Er nippte an einem Nosingglas und musterte diesen herrlichen Körper. Sie durchbrach mit leiser Stimme die Stille.
»Warum beobachtest du mich?«
Bess atmete das Aroma des Whiskys ein, schwenkte die Flüssigkeit und schmeckte erneut.
»Warum gestattest du mir, dich zu beobachten?«
Sie blickte ihn über ihre schmächtige Schulter hinweg an. »Willst du´s mir noch mal besorgen?«
Bess lehnte an der Wand.
»Ich lehne hiermit dankend ab.«
Sie lachte.
»Einfach irre, wie ihr Typen so redet.«
Er quittierte ihre Verwunderung mit einem Kopfnicken. Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.
»Du hast nichts dagegen, oder?«
Bess stieß sich von der Wand ab und stellte das Nosingglas neben die Flasche Glenmorangie.
»Tu dir keinen Zwang an.«
Sie zappte durch die Programme und verharrte nur Bruchteile von Sekunden bei den Bildern. Ihr Blick verfiel in eine starre Mimik angesichts der stetig wechselnden Bilder und Geräuschkulisse. Ein blauer Schimmer vom Sideboard zuckte durchs Dämmerlicht und alarmierte seine Sinne. Bess nahm das Gerät, las die Nachricht und hob einige Kleidungsstücke vom Boden auf. Den Anhang zu öffnen, vermied er.
»Ich muss gehen«, sagte er. Sie zog einen Schmollmund. »Bist du sicher?«
»Ja.«
Sie setzte sich auf und verschränkte die Arme vor ihren Brüsten. Die Enttäuschung wirkte echt.
»Warum?«
»Arbeit.«
»Aber es ist spät. Musst du wirklich?«
»Ich fürchte, ja.«
Sie seufzte. »Du hast mir nicht mal erzählt, was du machst.«
Seine Antwort entsprach der Wirklichkeit.
»Ich löse Probleme.«
»Soll ich warten?«
Bess zögerte mit der Antwort. Sie sah ihn mit großen Augen an. Diese Augen übten die gleiche Wirkung aus, wie am Abend zuvor. Er empfand Ruhe. Ein Zustand, der gerade jetzt äußerst ungelegen kam. Ihr Auftritt in der Bar gesten und die geilen Blicke der Anderen hatten ihn einfach nur geärgert. Er akzeptierte ihre Werbung. Warum wußte er auch nicht. Das ihre Lebensgeschichte frei erfunden und sie garantiert nicht einundzwanzig war, störte dabei nicht. Entgegen aller Gewohnheiten fragte er sie.
»Wie heißt du?«
»Lana«, sagte sie und es klang wie eine Bitte.
Bess öffnete die Tür des Zimmers.
»Ich bin einverstanden.«
Er hielt inne und drehte seinen Kopf. Das Mädchen saß still auf dem Bett. Die Silhouette ihres Körpers im Dämmerlicht mit den hüftlangen Haaren raubte ihm den Atem. Bess genoss den Moment.
»Warte zwei Stunden, dann geh«, nickte er und schloss nachdenklich die Tür hinter sich.
Die Zielperson sah älter aus. Die Photos mussten aus vergangenen Jahren stammen. Das trübe Licht der Straßenlaternen betonte die tiefen Falten auf seinem Gesicht und seinen bleichen, nahezu kränklichen Teint. Der Mann machte einen gehetzten Eindruck. Entweder war er hochgradig nervös, oder zuviel Koffein verdünnte sein Blut. Egal, was der wahre Grund sein mochte, in einigen Sekunden spielte es ohnehin keine Rolle mehr.
Der Name im Dossier lautete Andris Vitals, lettischer Staatsbürger, achtundfünfzig Jahre alt, 1,75 Meter groß, fünfundsiebzig Kilo, Rechtshänder, ansonsten keine besonderen Kennzeichen. Vitals trug eine Brille, einen dunklen Anzug, Lederschuhe. Den Diplomatenkoffer hielt er fest an sich gedrückt und huschte durch die mittlerweile klare Nacht.
Am Anfang der Gasse warf Vitals einen Blick über die Schulter zurück. Eine Bewegung, zu offensichtlich um einen Beschatter zu übertölpeln und viel zu überhastet. Vitals bemerkte den Mann nicht, der nur wenige Meter von ihm entfernt im Schatten stand.
Bess wartete, bis Vitals den Lichtkegel der Laterne hinter sich ließ und drückte ruhig und gleichmäßig ab.
Schallgedämpfte Schüsse durchbrachen die Stille des frühen Morgens. Bei den Projektilen handelte es sich um Unterschallmunition, 5,7 Millimeter. Die verheerende Wirkung entsprach durchaus den größeren Kalibern. Mit Kupfer ummantelte Bleikugeln bohrten sich durch Haut, Knochen und Herz. Vitals fiel auf den Boden, die Arme ausgestreckt. Sein Kopf sackte sofort zur Seite.
Bess machte einen wohlkalkulierten Schritt aus der Dunkelheit nach von. Er richtete die FN five-seveN noch einmal auf Vitals und jagte ihm eine Kugel in die Schläfe. Die leere Patronenhülse landete auf den Pflastersteinen und blieb in einer Wasserlache liegen. Sie schimmerte leicht orange im Licht der Natriumdampflampen. Bess verharrte einen Moment lang, regungslos. Keine Geräusche störten, nur das leise Pfeifen aus den beiden Einschusslöchern in Vitals Brust erinnerte an den Tod. Es war die Luft, die das Opfer mit seinem letzten Atemzug einatmete und jetzt langsam entwich.
Die Morgendämmerung zeichnete erste farbige Spuren an den östlichen Himmel. Bess weilte mitten im Herzen von Paris, in einem Viertel mit schmalen Gassen und gewundenen Seitenstraßen. Er durchsuchte sorgfältig den leblosen Körper, steckte die Patronenhülsen ein und hoffe nichts zu übersehen. Er griff nach der Brieftasche und klappte sie auf. Sie beinhaltete das Übliche, Kreditkarten, Führerschein, Bargeld, sowie eine verblichene Photographie aus jüngeren Tagen des Opfers, zusammen mit Frau und Kindern. Auf der Rückseite des Photos klebte das ausgeschnittene Portrait eines Mädchens mit prall geschminkten Lippen, auffälligen Lidschatten und einem völlig übertriebenen Wangenrouge. Bess stutzte. In diesem, auf älter getrimmtem Gesicht, erkannte er Lana.
Bess steckte die Brieftasche ein und stand auf. In Gedanken zählte er seine abgefeuerten Schüsse. Zwei in die Brust, einen in den Kopf. Blieben siebzehn Patronen im Magazin der FN. Eine einfache Rechnung, trotzdem Bestandteil einer festen Regel. Er wusste, der Tag, an dem er noch einmal den Überblick verlor, war sein Letzter. In Anfangszeiten befand sich die Waffe in den Händen eines Anderen und er schwor sich, dieses Klicken beim Abdrücken kein zweites Mal zu ertragen.
Er ging um den Leichnam herum und öffnete mit der linken Hand den Diplomatenkoffer. Ein kleines Kästchen stellte den gesamten Inhalt dar. Klein und unschuldig sah es aus. Kaum vorstellbar, dass dieser Gegenstand der Grund für den Auftragsmord sein sollte, aber genauso war es. Bess blickte sich erneut um. Weder Menschen noch Autos waren zu sehen, kein Schritt war zu hören, niemand der beschlossen hatte, ausgerechnet hier und jetzt seine Blase zu entleeren.
Lana erwartete ihn, wie er sie verlassen hatte, in Sitzhaltung auf dem Bett, nackt. Ihre Haare, gebunden zu einem langen Zopf, ähnelten einer blonden Schlange, die sanft den Hals umkreiste.
»Willst du mich immer noch?«
Bess legte wortlos die Habseligkeiten seines Opfers vor ihr in Reichweite auf die Bettdecke. Die Beretta71 Jaguar auf dem Nachtisch registrierte er mit einem Seitenblick. Sorgen machte er sich wegen der Waffe nicht. Sie lag zu weit weg, um schnell danach zu greifen. Außerdem war der Abzug gesichert. Lana griff nach dem Photo und betrachtete die Rückseite. Ihre Hand zitterte.
»Das bin ich vor sieben Jahren«, sagte sie leise. »Da war ich zwölf.«
Tränen füllten ihre Augen.
»Danke«, sagte sie und legte das Photo zur Seite. »Kann er wirklich nicht mehr zu mir kommen?«
»Nein, nie mehr.«
Bess setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Dabei behielt er Lana im Blickwinkel. Sie beugte ihren Oberkörper vor. Der Zopf fiel nach vorn. Sie schien seine Anspannung zu fühlen. Mit Bedacht nahm sie das kleine Kästchen, öffnete es mit dem kleinen Schlüssel an ihrer Halskette und reichte es ihm.
»Ich bin keine Bedrohung für dich. Bitte glaube mir. Mein Stiefvater war abartig.«
Bess schnippte den Deckel mit dem Daumen der linken Hand hoch. Die andere Hand steckte in der Jackentasche und umfasste die FN five-seveN.
»Rohdiamanten«, stellte Bess fest. »Was soll ich damit?«
»Wir gehören dir«, sagte Lana und aus dem Klang ihrer Stimme entsprang ein Flehen. »Wenn du willst.«
Bess klappte den Deckel zu und stellte das Kästchen auf den Beistelltisch. In ihrem Augenausdruck sah er Angst.
»Wofür hast du mich wirklich bezahlt? Diesen Auftrag hätte jeder Anfänger erledigen können.«
»Man sagte mir, du wärst der Beste und ich brauchte einen Profi.«
»Sex inklusive?«
Lana lachte kurz.
»Du hast meine Ängste weggevögelt. Danke für den Neuanfang.«
Bess ahnte, dass der ursprüngliche Auftrag nur oberflächlich betrachtet, erledigt sein könnte. Warum sie sich zusätzlich anbot, blieb ihr Geheimnis. Ein Teil der Rohdiamanten genügte für einen neuen Auftrag völlig und sie wusste das. Immerhin schaffte sie es, seine Neugier zu wecken.
»Ich höre.«
Bess lehnte zurück. Die Hand blieb an der FN five-seveN. Lana berichtete aus ihrer Kindheit, den ständigen Vergewaltigungen durch ihren Stiefvater seitdem sie zehn Jahre alt war, von den Vermietungen an Geschäftspartner und ihren Rachegelüsten.
»Dreimal lief ich weg. Beim letzten Mal erklärte er mich zum Hauptgewinn, an meinen fünfzehnten Geburtstag.«
Sie senkte die Augenlider. Die Mundwinkel rutschten herunter.
»Die Männer spielten den ganzen Tag irgendwelche Kartenspiele. Auf den Tischen lagen Stapel von Geld. Die anderen Mädchen mussten ihnen zu Willen sein. Ein armes Ding, das sich weigerte, haben sie kurzerhand halbtot geprügelt.«
»Was ist dir passiert?«
»Mein Körper diente zum Zeitvertreib. Heiße Nadeln, du weißt schon.«
Lanas Stimme stockte. Sie zeige ihm ihre linke Hand. Der Ringfinger fehlte.
»Jemand fand es besonders lustig mit einer Kneifzange herumzuspielen. Man nannte es Strafe.«
»Sie wollten deinen Willen brechen«, stellte Bess fest. Das sie trotz dieser Vergangenheit nicht aufgegeben hatte und mit ihren Mitteln weiter kämpfte, forderte ihm Respekt ab. Diese konsequente Haltung machte sie interessant. Die Aussicht, mit ihr zusammenzubleiben, gefiel ihm plötzlich. Vielleicht war das der Grund, warum er ihr Glauben schenkte. Der Griff seiner Hand an der FN five-seveN lockerte sich.
»Du bist für mich der rettende Engel, jemand den ich lange gesucht und mir in vielen Momenten erträumt habe«, sagte Lana und wischte einige Tränen aus dem Gesicht. »Bei dir kann ich atmen und fühle das erste Mal in meinem Leben Sicherheit. Kannst du das verstehen?«
Bess nickte.
»Ist das alles?«
»Nein.«
Lana spielte nervös mit ihren Händen.
»Bitte … hilf mir.«
Sie nahm das Kästchen mit den Rohdiamanten, zog von der Unterseite einen Speicherchip aus einer Vertiefung, nahm die Kette mit dem Schlüssel von ihrem Hals und hielt ihm beides hin. In ihrer Geste lag etwas Endgültiges.
»Ab jetzt bin ich zum Abschuss freigegeben.«
Bess fixierte seinen Blick auf den Speicherchip.
»Beinhaltet er das, was ich vermute?«
Lana bejahte.
»Alles um sie zu vernichten, die gesamte Organisation.«
Sie ballte ihre Faust.
»Namen, Orte, Adressen, mitgeschnittene Telefonate. Hilf mir, bitte. Allein schaffe ich das nicht.«
2 Kommentare
Susanne Böhling
Die Unvollkommenheit ihres Körpers hätte ich gern weniger abstrakt. Sonst ist mir das zu klischeehaft, mitbedenkendem blonden Haaren und so 😉
Bess Brown
Lieber Claus,
es weckt Erinnerungen an längst vergangene Tage.
Ich bin begeistert! Vielen Dank!
Beste Grüße
Bess B.