Silberpalais
Mit dem Schlaf kamen die Träume. Es war jede Nacht dasselbe, und zwar so lebhaft, dass ich sogar ihr Parfüm wieder riechen konnte. Wir lebten immer noch zusammen, am südlichen Stadtrand, in Neudorf, dicht am Wald, der bis zur Sechs Seen Platte reichte. Sie lächelte mich an und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.
»Du, Jens, der Caterer will wissen, ob wir die Erbsensuppe oder die Hochzeitssuppe als Vorspeise nehmen.«
»Sonnenschein, erklär mir bitte mal diese Hochzeitssuppe.«
»Das ist Hühnerbrühe mit kleinen Kalbsfleischklößchen drin.«
»Das hört sich gut an für dich?«
»Sehr sogar. Ich hab sie schon probiert.«
»Dann nehmen wir sie einfach.«
Sie küsste mich, verspielt und liebevoll.
Ich erwachte schweiß gebadet. Hätte mir früher jemand erzählt, dass glückliche Erinnerungen eines Tages der Ursprung unendlicher Qualen werden können, hätte ich das sicher nicht für möglich gehalten. Aber Dinge ändern sich.
Durch meine dreckige Fensterscheibe lugte der Mond herein. Ich streckte mich und stöhnte, weil mir alles wehtat – jede Stelle meines Körpers, außer der linken Seite, bei der die Ärzte während einer Operation die Nerven durchtrennt hatten. Ein Eingriff nur zum Zweck der Schmerzlinderung. Die Chordotomie verschaffte mir genügend Linderung zu funktionieren, und was übrig blieb, bekämpfte Marihuana, Codein und billiger Raki. Hier in Marxloh, nahe der islamischen Moschee, gab es genügend davon.
Ich zog eine ausgebeulte Jeans an, zurrte den Waffengurt aus Leder über dem frischen T-Shirt fest und steckte die Maverick Pumpflinte hinein. Sie saß genau zwischen meinen Schulterblättern, mit der Mündung nach oben. Meine rechte Hand konnte sie auf Hüfthöhe problemlos herausziehen. Ein Regenmantel verdeckte die Ausrüstung. Ich steckte fünf Extrapatronen ein, dazu die Tüte Granulat, eine 21er Glock mit zwei Zusatztrommeln 45er Patronen und ein sechs Zoll Butterfly Messer. In den Extragurt, der ins Mantelfutter eingenäht war, hängte ich ein Brecheisen und machte mich auf in den frischen Abend.
In Marxloh roch es nach einer Mischung aus Sojasoße und Abfall. Im Sommer war es schlimmer, wenn sich die Gerüche festsetzten und in den Klamotten hingen. Selbst jetzt, mit dem leichten Nieselregen und der kühlen Abendtemperatur, waberten die Schwaden in meine Nase.
Die Bäckerei ihres Vaters hatte trotz der fortgeschrittenen Zeit geöffnet.
»Jens, was ist passiert? Du siehst grauenhaft aus.«
Ihr Vater kam um die Verkaufstheke herum und begrüßte mich, mit mehlbestäubtem Hemd und Händen. Er verzog mitfühlend das Gesicht.
»Waren die das?«
Ich verneinte.
»Hab nicht aufgepasst.«
Eine Untertreibung. Nachdem ich die Innenstadt von Duisburg eine Zeitlang durchkämmt hatte, fand ich heraus, dass die Bande in der Nähe des Hauptbahnhofes ein Versteck unterhielt. Einige Junkies wollten nicht auspacken woher sie den neuen Stoff bezogen und ich musste nachhelfen. Einen der Kerle brachte ich zum Reden. Die alte Steinmauer, auf der sein Kopf rhythmisch aufschlug, litt arg darunter. Während er mir anschließend bereitwillig Auskunft gab, stürzten sich zwei andere von hinten auf mich. Die Schlägerei dauerte nicht lange, aber sie waren zäh. Ich musste eine Menge einstecken.
»Das sind Typen der Ndrangheta«, erklärte er mir, »frisch eingeflogen. Ich hoffe, du hast dir die Gesichter von den Fotos eingeprägt.«
Ihr Vater klebte mir ein neues Pflaster über die aufgeplatzte Augenbraue.
»Bringst du die Sache heute zu Ende?«
»Ja.«
»So, wie wir es besprochen haben?«
»Genau so.«
Er verbeugte und bedankte sich bei mir. Ich verließ die Bäckerei und ging zur Bushaltestelle. Das Geld in meiner Hosentasche hätte durchaus ausgereicht ein Taxi zu bezahlen, aber ich wusste, die Fahrer führten Buch. Außerdem sparte ich das Geld lieber. Die Medikamente kosteten.
Die Fahrt im Nachtexpress dauerte dreißig Minuten. Vom Hauptbahnhof lief ich, vorbei am Silberpalais, durch die Eisenbahnunterführung.
Das Haus stand am Ende einer Gasse. Im Erdgeschoss brannte Licht. Ich versuchte es an der Hintertür. Auch wenn die Farbe abblätterte, die Tür strotzte vor Stahlverstrebungen und besaß ein stabiles Schloss. Mir fiel auf, dass der Rahmen aus Holz bestand. Ich holte das Brecheisen aus meinem Mantel, sah unauffällig nach links und rechts. Der Rahmen knackte und gab nach. Bei jemandem einzubrechen ist eine unheimliche Sache. Jedes Mal wieder.
Ich war gespannt, auf wie viele Personen ich traf. Letzte Nacht zählte ich sieben – fünf Männer und zwei Frauen. Es konnte natürlich sein, dass ein paar Junkies dort rumlungerten. Diese Tür zu öffnen war ein Witz. Anscheinend waren sie der Ansicht, Gangmitglieder einer Mafiaorganisation müssten keine Sicherheitsmaßnahmen treffen. Ich holte meine Glock heraus und versuchte ruhiger zu werden. Das Brecheisen steckte ich zurück in den Mantel.
Auf Zehenspitzen huschte ich durch den halbdunklen Flur und sah mich um. Vor der Tür zum vermeintlichen Wohnzimmer blieb ich stehen. Mit einem festen Tritt gab die Tür nach. Auf der Couch vor dem Fernseher schlief ein Kerl. Keiner von meinen. Er wachte auf und schaute mich an. Sein rechter Oberarm lag frei und zeigte den heiligen Gabriel, ihr Tattoo. Wo das Gesicht des Engels sein sollte, klaffte ein Brandloch. Ich schoss ihm direkt in die Stirn.
Falls die eingetretene Tür noch nicht alle aufgeweckt hatte, die 45er sorgte dafür. Sie dröhnte in dem Zimmer wie ein Donnerschlag. Ich rannte auf den Flur zurück. Ein Mann taumelte rechts von mir aus einer Tür und brüllte. Mit der Hand umklammerte er einen Dolch. Das war einer von meinen.
Die erste Kugel traf sein Knie. Die Zweite zerfetzte seinen Arm. Er schrie wie am Spieß. Instinktiv ließ ich mich auf den Boden fallen. Eine Kugel schlug in die Decke über mir ein. Ich presste mich auf den Boden und erkannte den Schützen im Badezimmer. Ich griff hinter mich und zog die Pumpgun heraus. Er schoss noch einmal und verfehlte mich. Ich zielte und schickte ihm eine Ladung Spezialschrot ins Gesicht.
Im Unterschied zu Bleischrot drang das Granulat nicht allzu tief ein. Anstatt ihm den Kopf wegzublasen, zerfetzte es seinen Mund und die Augen. Er fiel kopfüber auf den Fußboden und würgte in seinem eigenen Blut.
Eine Frau lief aus der Küche und fing an zu kreischen. Sie stand im Höschen und T-Shirt vor mir. Babyspeck über den Hüften quoll heraus.
»Verschwinde Keule«, schrie ich sie an. Sie rannte los.
Hinter mir hörte ich Geräusche. Ich drehte mich auf den Rücken, die Maverick im Anschlag. Ein Junge stand im Flur, nur wenige Schritte von mir entfernt. In der Hand hielt er eine Pistole. Ich zielte flach. Falls er schon ein Sexualleben hatte, war es jetzt damit vorbei. Er fiel auf die Knie, die Waffe immer noch in der Hand. Mit zwei Schritten war ich bei ihm und knallte ihm das Knie unter die Nase. Er verlor sofort das Bewusstsein.
Aus dem Schlafzimmer stürmten drei Männer. Offenbar hatte ich mich verzählt. Zwei davon waren muskulös gebaut. Messerklingen blitzten auf.
Sie hatten mich am Wickel, bevor ich die Flinte wieder anlegen konnte.
Der erste griff mich mit seinem Schlachtermesser an, aber sein Stich scheiterte an dem Brecheisen im Mantel. Die Klinge rutschte ab. Ich schmiss ihm die Flinte ins Gesicht und griff nach der Glock.
Er war schnell.
Ich war schneller.
Die Kugel ging schräg durch sein Kinn in den Kopf. Hirnmasse spritzte. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Zweite zum Sprung ansetzte und machte Schritte rückwärts. Ich stolperte und schoss im Fallen das Magazin leer. Eine blutende Masse, die vorher ein Mensch war, fiel zu Boden.
Der Dritte schnappte sich meine Pumpflinte und hechtete ins Wohnzimmer. Ich riss eine der 45er Ersatztrommeln aus meiner Manteltasche und lud nach. Meine Handflächen waren feucht, Adrenalin jagte durch meinen Körper. Vorsichtig kroch ich zur Wohnzimmertür. Am Türrahmen hielt ich inne. Der Mann rief nach mir.
»Chi sei, bastardo?«
Ohne eine Antwort abzuwarten schoss er. Mit einer Bleischrotladung hätte er mich wahrscheinlich gehabt. Granulat schlug in den Rahmen. Holz splitterte. Ich kroch hastig zurück, hielt die Glock um die Ecke und feuerte zwei Schüsse wahllos ins Wohnzimmer.
Der Idiot wurde aus Erfahrung offenbar nicht klug, denn er versuchte es zweimal hintereinander mit dem gleichen Ergebnis. Dann war die Flinte leer. Ich hörte das Klicken und sprang in das Wohnzimmer. Der Mann versuchte aus dem Fenster zu flüchten. Sein Rücken bot eine gute Zielscheibe. Ich steckte die Glock ein, schnappte meine Maverick und lud die fünf Ersatzpatronen nach.
Die Wunde in seinem Rücken sah hässlich aus, trotzdem gab er sich viel Mühe wegzukriechen. Ich beugte mich herunter, drehte ihn um und schob ihm die Mündung zwischen die blutigen Lippen.
»Erinnerst du dich an meine Frau?« Fragte ich und drückte ab. Das Granulat riss seinen Unterkiefer weg, aber irgendwie schaffte es der Kerl weiter zu atmen. Ich rammte die Flinte tiefer in sein zermatschtes Gesicht und drückte noch einmal ab. Diesmal haute es hin.
Der Zweite, den ich blind geschossen hatte, lag ohnmächtig auf dem Badezimmerboden. Aus der Masse, die mal sein Gesicht gewesen war, blubberte Blut.
»Hallo von meinem Sonnenschein«, sagte ich und wunderte mich über meinen ruhigen Tonfall.
Dieses Mal drückte ich die Flinte tief hinein und es klappte schon beim ersten Mal.
Der letzte Kerl, dem ich anfangs nur das Knie und den Ellbogen wegschoss, schmierte eine Blutspur vom Flur in die Küche. Er kauerte angsterfüllt in einer Ecke.
»Wo sind die Anderen«, herrschte ich ihn an. Bislang hatte ich nur drei von meinen Fünf gezählt.
»Restaurante Palazzo«, keuchte er. »Nikt schießen, Signore. Bittä nix tun.«
»Das hat mein Sonnenschein bestimmt auch gesagt.«
»Frau nix maken kaputt.«
»Ihr habt sie vergewaltigt. Alle. Und danach in den Himmel gespritzt.«
Er schüttelte wild mit dem Kopf.
»Sono innocente.«
»Sicher. Du bist unschuldig.«
Das Granulat zerfetzte seine Brust. Aber das reichte nicht. Seine Überreste rangen noch immer nach Luft. Ich holte die Tüte Granulat aus meiner Tasche und beugte mich herunter.
»Drei Tage vor unserer Hochzeit«, flüsterte ich ihm zu, nahm eine Handvoll und stopfte es ihm in die Fresse, bis er nicht mehr atmete.
Ich hörte Sirenen und haute ab.
Das Restaurant „Da Bruno“ lag am Seiteneingang vom Silberpalais. Die vierspurige Mülheimer Straße verlief daneben. Auf dem Mittelstreifen parkten wie gewöhnlich Autos. Eine Gruppe von Menschen stand unter dem hell erleuchteten Vorbau. Ich zählte acht Gestalten. Meine zwei standen ein wenig abseits und unterhielten sich. Ich nahm die letzte Ersatztrommel und lud die Glock. Mit der Waffe im Anschlag rannte ich los, im Schutz der langgezogenen Glasfront. Sie sollten mich erst im letzten Augenblick erkennen. Die Betonsäule, einige Meter vom Eingang des Restaurants entfernt, ließ ich bei meinem Kamikazeangriff nicht aus den Augen. Sie sollte mein Kugelfang sein.
Die Typen bemerkten mich, viel zu früh. Einer aus der Gruppe zeigte auf mich und zog seine Waffe. Meine Glock spuckte alles aus, was ich zu bieten hatte. An die Glasfront gelehnt schoss ich aus fünfundzwanzig Metern Entfernung auf meine Beiden. Die Anderen waren mir egal. Der Vordere kippte um. Auch der Zweite fiel zu Boden. Neben mir schlugen Kugeln in das Sicherheitsglas ein. Ich rutschte zu Boden und steckte die Glock wieder ein. Meine Munition war verbraucht. Das war’s. Es blieb nur Abwarten auf das Endgültige.
Aber Dinge ändern sich.
Von dem Mittelstreifen stürmten plötzlich mehrere Männer aus den geparkten Autos über die rechte Doppelspur der Mülheimer in Richtung Restauranteingang. Sie brüllten in italienischer Sprache und schossen aus allen Rohren. Das ganze Spektakel dauerte nur wenige Sekunden, bevor sie wieder in ihre Autos stiegen und davonrasten.
Ich sprang hoch und lief zu meinen. Einer röchelte und hielt seine beiden Hände fest am Bauch. Er konnte trotzdem nicht verhindern, dass Gedärme herausquollen.
»Gnade«, stammelte er und starrte mich an. Todespanik schimmerte in seinen weit aufgerissenen Augen. »Bitte, lass mich leben.«
»Das wollte mein Sonnenschein auch«, sagte ich. »Schöne Grüße von ihr.«
Die Klinge meines sechs Zoll Butterfly Messers schnappte auf und ich schnitt ihm die Kehle durch. Ich tat es mit Bedacht, ganz langsam. Er sollte fühlen, wie ich sein Leben zerschnitt. Anschließend flüchtete ich über den Marktplatz, dorthin, wo ich einst glücklich war, nach Neudorf.
Am nächsten Tag empfing mich ihr Vater mit einem finsteren Nicken.
»Sie sprechen von einem Massaker.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es war nicht schön.«
»Du hast alles gemacht wie wir besprochen haben?«
»Ja, das habe ich Levent. Deine Tochter hat sie getötet, alle fünf.«
Ich fischte die Tüte mit dem restlichen Granulat heraus und gab sie ihrem Vater. Die verbrannten Überreste von Azlan.
Er dankte mir und hielt den Umschlag mit dem Geld bereit. Seine Hand zitterte. Die Situation war ihm unangenehm. Mir auch. Aber ich musste noch Medikamente kaufen. Also nahm ich das Geld und ging, ohne ein weiteres Wort.
Eine Stunde später unterschrieb ich mein Codein Rezept, holte mir zwei Flaschen Whisky und eine Nutte mit Einstichnarben am Arm. Wir feierten ein bisschen in meiner Absteige. Ich trank und versuchte die Erinnerung an die vergangenen Tage auszulöschen. Und an das vergangene Viertel Jahr. Das war, nachdem die Ärzte meine endgültige Diagnose stellten. Eine Woche vor meiner Hochzeit und jenem Tag, an dem die Sonne aufhörte, für mich zu scheinen.
Die Italiener an diesem Abend hatten es gar nicht so schlecht gehabt. Denn sie sahen es nicht kommen.
Wenn man es kommen sieht, ist es sehr viel schlimmer.